Die Kunst zu leben
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Die Kunst zu leben
von lehrchen am 03.09.2009 22:23Osho,
erkläre uns bitte die Kunst zu leben.
Der Mensch ist dazu geboren, das Leben zu erfüllen, aber es kommt ganz auf ihn an.
Er kann es auch verfehlen. Er kann immer weiteratmen, er kann immer weiter essen, er kann immer älter werden, er kann immer mehr auf das Grab zugehen – aber das ist kein Leben, sondern ein langsamer Tod, von der Wiege bis zum Grab, ein siebzig Jahre währender, langsamer Tod.
Und weil du von Millionen umgeben bist, die alle diesen allmählichen Tod sterben, fängst du an, es genauso zu machen. Kinder imitieren immer die, die sie umgeben, und wir sind von Toten umgeben.
Also müssen wir erst verstehen, was ich mit „Leben“ meine.
Es darf nicht nur ein Älterwerden sein. Es muss ein Reiferwerden sein. Und das sind zwei sehr verschiedene Dinge. Alt werden, das kann jedes Tier. Reif werden, das ist dem Menschen vorbehalten.
Nur wenige nehmen dieses Recht in Anspruch. Heranreifen, das bedeutet, jeden Augenblick tiefer in das Prinzip des Lebens einzudringen, bedeutet, sich immer weiter vom Tod zu entfernen, nicht auf den Tod zuzugehen. Je tiefer du ins Leben eintauchst, desto mehr verstehst du die Unsterblichkeit in dir. Du entfernst dich immer weiter vom Tod; und es kommt ein Augenblick, da du sehen kannst, dass der Tod nichts anderes ist als ein Wechseln der Kleidung, oder ein Wechseln der Wohnung, ein Wechseln der Form – nichts stirbt, nichts kann sterben.
Der Tod ist die größte Illusion, die es gibt. Was Heranwachsen heißt, siehst du an einem Baum. Je mehr der Baum in die Höhe wächst, desto tiefer wachsen seine Wurzeln nach unten. Da gibt es ein Gleichgewicht: je höher der Baum reicht, desto tiefer gehen seine Wurzeln. Es gibt keinen fünfzig Meter hohen Baum mit kurzen Wurzeln. Sie könnten einen so riesigen Baum nicht halten.
Im Leben heranreifen bedeutet tief in dein Innerstes hineinwachsen – dort nämlich sind deine Wurzeln.
Für mich ist das oberste Prinzip im Leben Meditation. Alles andere ist zweitrangig. Und die Kindheit ist die günstigste Zeit. Je älter du wirst, desto näher kommst du dem Tod und desto schwieriger wird es, in Meditation zu gehen.
„In Meditation“ heißt, in deine Unsterblichkeit, in deine Ewigkeit, in deine Göttlichkeit gehen. Und das Kind ist dazu am besten geeignet, denn es ist noch nicht mit Wissen beladen; noch nicht mit Religion belastet, noch nicht mit Erziehung belastet, noch nicht mit allem möglichen Müll belastet. Es ist unschuldig.
Aber unglückseligerweise wird seine Unschuld als Unwissenheit verdammt. Unschuld und Unwissenheit sind sich ähnlich, sind aber nicht dasselbe. Auch Unwissenheit ist ein Zustand des Nichtwissens, genau wie Unschuld. Aber da ist auch ein großer Unterschied, der bis heute von der ganzen Menschheit übersehen wurde.
Unschuld ist nicht gebildet, aber sie hat auch nicht den Wunsch, gebildet und klug zu sein. Sie ist völlig zufrieden, wunschlos.
Ein kleines Kind hat keinen Ehrgeiz, es hat keine Wünsche, geht völlig im Augenblick auf – ein Vogel im Flug bannt seine Augen total. Ein bloßer Schmetterling in seinen schillernden Farben – und schon ist es verzaubert. Der Regenbogen am Himmel, und es kann sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas Wichtigeres, etwas Reicheres geben könnte als diesen Regenbogen. Und die Nacht voller Sterne, Sterne über Sterne…
Unschuld ist reich, sie ist voll, sie ist rein.
Unwissenheit ist arm, sie ist wie ein Bettler – sie will dies, sie will das, sie will gebildet sein, sie will anerkannt sein, sie will reich sein, sie will mächtig sein.
Unwissenheit geht den Weg der Begierde.
Unschuld ist ein Zustand der Wunschlosigkeit.
Aber da alle beide unwissend sind, werfen wir bis heute das Wesen beider durcheinander. Wir nehmen nach wie vor als gegeben hin, dass alle beide dasselbe sind.
Der erste Schritt in der Kunst zu leben wird sein, eine Trennlinie zu ziehen zwischen Unwissenheit und Unschuld. Unschuld muss unterstützt werden – denn das Kind hat den größten Schatz mit sich gebracht, jenen Schatz, den die Weisen erst nach schwerster Mühsal finden. Weise haben von sich gesagt, wieder Kind geworden zu sein, durch eine zweite Geburt gegangen zu sein.
In Indien hat sich der wirkliche Brahmane, der wirklich Wissende, als dwij bezeichnet, der „zum zweiten Mal Geborene“. Warum eine zweite Geburt? Was ist aus der ersten Geburt geworden? Wozu braucht er die zweite Geburt? Und was erwirbt er mit der zweiten Geburt?
Durch die zweite Geburt erwirbt er das, was ihm schon bei der ersten Geburt offen stand… nur dass die Gesellschaft, die Eltern und die Menschen um ihn herum es abgewürgt, zunichte gemacht haben.
Jedes Kind wird mit Wissen vollgestopft.
Seine Einfachheit muss irgendwie beseitigt werden, weil ihm Einfachheit in einer Welt voller Konkurrenz nicht helfen wird. Seine Einfachheit wird in dieser Welt den Eindruck machen, als wäre es ein Einfaltspinsel; seine Unschuld wird auf jede erdenkliche Weise ausgenützt werden. Die Angst vor der Gesellschaft, die Angst vor der Welt hat uns geprägt; wir möchten jedes Kind klug, schlau und gebildet sehen – damit es zum Lager der Mächtigen, nicht zum Lager der Unterdrückten und Machtlosen gehöre.
Und wenn das Kind erst einmal anfängt, in die falsche Richtung zu wachsen, dann folgt es immer mehr dieser Richtung – sein ganzes Leben geht in diese Richtung.
Sobald ihr begriffen habt, dass ihr euer Leben verfehlt habt, müsst ihr als erstes die Unschuld – das fundamentale Prinzip – wiedergewinnen. Werft euer Wissen weg, vergesst eure heiligen Schriften, eure Religionen, eure Theologien, eure Philosophien. Werdet wiedergeboren, werdet unschuldig – und ihr habt es selbst in der Hand. Macht euren Geist frei von allem, was ihr nicht selbst erfahren habt, von allem, was geborgt ist, von allem, was euch die Tradition, die Sitte und alle anderen mitgegeben haben – die Eltern, Lehrer, Universitäten. Stoßt es ganz einfach ab.
Seid wieder einfach, seid wieder Kind!
Und dieses Wunder geschieht einfach durch eine seltsame chirurgische Methode, die alles wegschneidet, was nicht zu dir gehört und nur beibehält, was dein authentisches Wesen ist. Sie verbrennt alles andere und lässt dich nackt zurück, allein unter der Sonne, im Wind. Es ist, als wärest du der erste Mensch auf Erden – der nichts weiß, der alles neu entdecken muss, der ein Sucher sein muss, der auf eine Pilgerreise gehen muß.
Osho, Auszug aus: Beyond Enlightenment